"Familienrat hat Kraft, Gesellschaft zu verändern"
arlt.dialog #13. Claudia Aufreiter im Gespräch
Claudia Aufreiter ist seit 1996 im Handlungsfeld der Kinder- und Jugendhilfe und seit 2004 in der Abteilung Kinder- und Jugendhilfe im Amt der NÖ Landesregierung tätig. Seit vielen Jahren lehrt sie im Bachelor Studiengang Soziale Arbeit und im Zertifikatslehrgang Familienrat. Bei der Entwicklung des Weiterbildungslehrganges arbeitete sie maßgeblich mit. Dieses Jahr verlieh ihr die Fachhochschule St. Pölten den Titel einer FH-Honorarprofessorin.
arlt.dialog sprach mit ihr über die Zukunft des Familienrates.
Worin sehen Sie die größten Herausforderungen für die Soziale Arbeit in den kommenden Jahren?
Die Soziale Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe legte und legt auch in Zukunft ihren Fokus auf nachhaltig wirksame Unterstützung und Begleitung von Familien und installiert Erziehungshilfen auf Basis von partizipativ entwickelten Hilfeplänen mit Kindern, Jugendlichen und Familien, um Gefährdungen des Kindeswohles zu vermeiden bzw. abzuwenden.
Unser Ziel und unsere Grundhaltung ist es, Kinder, Jugendliche und Familien zu unterstützen, ihre Selbsthilfepotentiale zu (re)aktivieren, damit es ihnen so gelingt, (wieder) ein eigenverantwortliches und selbstbestimmtes Leben zu führen. Die Soziale Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe bewegt sich hier im dynamischen Spannungsfeld der Wahrung der Rechte der Kinder, der Achtung der Elternrechte und der Erfüllung des gesetzlichen Auftrages im Kinderschutz.
In diesem Spannungsfeld lösungs- und ressourcenorientiert in wertschätzender und partizipativer Grundhaltung gefährdete Kinder, Jugendliche und hochbelastete Eltern professionell zu begleiten, war, ist und bleibt eine fachliche Herausforderung für die Soziale Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe.
Bei der Entwicklung des Lehrgangs Familienrat waren Sie wesentlich involviert. Worin liegt das große Potential der Methode?
Der Familienrat gibt der Familie die Verantwortung für die Lösung ihrer Probleme und Sorgen zurück. Die Kinder- und Jugendhilfe oder der/die Auftraggeber*in des Familienrates geben mit der Formulierung der Sorge das Thema vor, zu welchem die Familie und das soziale Netzwerk Lösungen und einen Plan entwickeln sollen.
Familien können mit dieser Methode "gute" eigene und individuell für ihre Familie passende Entscheidungen und Lösungen für sich und das Leben ihrer Kinder treffen. Der Familienrat ist auch ein Ausdruck der Abkehr von der Vorstellung, dass Fachkräfte wissen, was für die Familie und die Kinder in dieser Familie "das Beste" ist. Der Familienrat hat mich gelehrt, großes Zutrauen in Familien und Respekt vor der – manchmal noch kaum sichtbaren – Kraft zu haben, die in Familien steckt. Die Methode gibt Familien Hoffnung, auf ein eigenverantwortlich gestaltetes Leben zurück.
Die Kinder- und Jugendhilfe führt das Modell des Familienrats seit einigen Jahren in ihrem Hilfekatalog an. Was würde helfen, die Methode weiter zu verbreiten?
Auf strukturell-organisatorischer Ebene wurde der Familienrat in der Kinder- und Jugendhilfe Niederösterreich seit 2013 sehr gut eingebettet und durch zwei Forschungsprojekte seitens der Fachhochschule St. Pölten wissenschaftlich gut begleitet.
Laufend machen Kolleg*innen an den Dienststellen die Erfahrung, Teil eines Familienrates sein zu dürfen und die Kraft und Freude von Familien zu spüren, wenn sie nach einer langen und vielleicht turbulenten family-only-Phase stolz ihren Plan zur Veränderung der Situation präsentieren – dass Familien es aus eigener Kraft geschafft haben, ihren eigenen Plan entwickelt zu haben.
Ich freue mich jedes Mal über begeisterte Rückmeldungen von Sozialarbeiter*innen, wenn sie zum ersten Mal einen Familienrat beauftragt haben und diesen Prozess in Familien miterleben.
Gemäß dem Motto "wenn etwas funktioniert, dann sprich darüber" sehe ich dem Austausch und fachlichen Diskurs über "gelungene" Familienräte einen wichtigen Aspekt, wenn es um die weitere Verbreitung dieses Verfahrens auch in andere Handlungsfelder geht.
Was würden Sie sich für die Weiterentwicklung von Conferencing-Methoden wie der des Familienrates in der Sozialen Arbeit in den kommenden Jahren wünschen?
Conferencing-Methoden sollten ein selbstverständlich zur Verfügung stehendes "Werkzeug" in allen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit darstellen. Der länder- und handlungsfeldübergreifende Austausch der Praktiker*innen aber auch jener mit den Nutzer*innen darf nicht ins Stocken geraten. Ich bin davon überzeugt, dass die Profis gut beraten sind, von den Erfahrungen der Bürger*innen und Familien zu lernen und so die Conferencing-Methoden partizipativ weiter zu entwickeln.
Familienrat und andere Conferencing-Methoden tragen die Kraft in sich, die Gesellschaft positiv zu verändern. Gerade in Zeiten, in denen "social distancing" zu einem gesellschaftlichen Gebot geworden ist, wäre diese Kraft umso wichtiger.
Weiterführender Link
arlt.dialoge zum Nachlesen
- arlt.dialog #1 mit Sylvia Supper
- arlt.dialog #2 mit Christoph Redelsteiner
- arlt.dialog #3 mit Christine Schmid
- arlt.dialog #4 mit Johannes Pflegerl
- arlt.dialog #5 mit Kurt Fellöcker
- arlt.dialog #6 mit Christine Haselbacher
- arlt.dialog #7 mit Alois Huber
- arlt.dialog #8 mit Michael Delorette
- arlt.dialog #9 mit Michaela Moser
- arlt.dialog #10 mit Elisabeth Weber Schigutt
- arlt.dialog #11 mit Ulrike Rautner-Reiter
- arlt.dialog #12 mit Tom Schmid