Enron & Wirecard – (k)ein neues Phänomen?

Markus Strohmayer zum Thema Bilanzbetrug und Corporate Governance

Das Jahr 2020 prägten einige wenige Themen. Bilanzbetrug war eines davon. Zwei Skandale, Wirecard und Commerzialbank, rückten das sonst nur für Wirtschaftsprüfer*innen spannende Phänomen in den Fokus der Öffentlichkeit. Knapp 20 Jahre nach Enron, Sarban-Oxley-Act und dem Hochhalten der Corporate Governance kehrt ein altbekanntes Phänomen zurück. Älter als so manche glauben würden.

Bilanzen und die Wahrheit

Durch über Jahre hinweg aufgeblähte Bilanzen, die im Sommer 2020 bekannt wurden, und die anschließende Insolvenz des DAX-Unternehmens Wirecard dürften rund 50.000 Anleger*innen geschädigt worden sein. Insgesamt soll sich der Finanzskandal in Milliardenhöhe zu Buche schlagen (Schmidtutz, 2020). Dimensionen, die zeigen, wie wichtig eine funktionierende Kontrolle der Finanzmärkte ist.

Standesgemäß drängt sich die Frage auf, wo die Mechanismen im konkreten Fall versagt haben. Die Relevanz dieser Frage speist sich u. a. aus vergangenen Korruptionsskandalen, die Parallelen zu Wirecard aufweisen und den Vorwurf nahelegen, dass nichts aus der Vergangenheit gelernt wurde. Schließlich schrieb bereits Schlegel (1798, S. 20) „der Historiker ist ein rückwärtsgekehrter Prophet“. Wer sich „rückwärtskehrt“, findet fast genau 20 Jahre vor den Vorwürfen gegen Wirecard einen Manipulationsskandal mit verblüffenden Ähnlichkeiten: Enron.

Enron und seine Folgen

2001 wurde bekannt, dass die Zahlen des US-Energieriesen gefälscht waren. Damals verloren Investor*innen, Banken sowie Pensionsfonds 60 Milliarden US-Dollar und 20.000 Angestellte ihren Arbeitsplatz (Damm, 2020).

Davon ausgehend werden im Folgenden beide Fälle auf Analogien untersucht. Da zum Bekanntwerden der Machenschaften bei Enron und Wirecard die Medien einen bedeutenden Beitrag leisteten, soll deren Rolle als „inoffizielle Kontrollinstanz“ beleuchtet werden – und zwar sowohl aus aktueller als auch aus historischer Perspektive. Wurde hier die Chance verpasst, aus der Geschichte zu lernen und so einen neuerlichen Milliardenschaden zu verhindern?

Gewinne aus der Zukunft

Ähnlich wie bei Wirecard, stellte sich auch bei Enron heraus, dass in der Bilanz Schulden in der Höhe von 1,2 Milliarden Dollar unterschlagen wurden (Holt & Eccles, 2002, S. 327). Viele fragten sich, wie es unbemerkt so weit kommen konnte.

„Möglich wurde der größte Bilanzskandal aller Zeiten durch die Pervertierung einer zuvor unverdächtigen Bilanzierungsmethode: Die Börsenaufsicht erlaubte Enron, seine Verträge mit dem ‚Mark-to-Market-Accounting‘ zu bewerten. Das heißt, Enron bewertete zukünftige Erträge zu heutigen Marktpreisen“ (Wulff, 2007).

In der Bilanz wurden also künftige Gewinne – basierend auf bestehenden Verträgen mit Energielieferanten – bereits berücksichtigt. Problematisch daran war, dass dazu Prognosen für die Energiepreise der kommenden Jahre erstellt wurden, und zwar so, dass sie Enron in die Karten spielten. In den eigenen Berechnungen wurde jahrzehntelang mit steigenden Energiepreisen kalkuliert, was auf dem Papier zu extremen Profitsteigerungen führte, letztlich aber einer Manipulation der Jahresabschlüsse gleichkam (Wulff, 2007).

Neue Geschäftsmodelle

Ähnlich groß war die Verwunderung 20 Jahre später, als vergangenen Sommer Wirecard Pleite ging (Schäfer, 2020, S. 562).

Mittlerweile ist klar, dass bei dem Konzern lange einiges im Argen lag. Anders als bei Energiekonzern Enron war das Geschäftsmodell von Wirecard nie greifbar, schließlich wurden keine physischen Produkte verkauft.

Wirecard verdiente an bargeldlosen Zahlungen zwischen Kund*innen auf der einen und Händler*innen auf der anderen Seite, indem es als Intermediär agierte, sprich sicherstellte, dass das Geld von A bei B landete. Für jede dieser elektronischen Zahlungen wurde eine Gebühr eingehoben, schließlich benötigen derartige Geschäfte Treuhandkonten, da es vorkommt, dass Käufer*innen ohne gedeckte Konten Kaufverträge abschließen. Die von Wirecard gefüllten Konten stellten die Sicherheit dar.

In Europa war das Geschäftsmodell transparent, schließlich betreibt Wirecard hier eine eigene Bank. Nicht so in Asien, wo die nötigen Lizenzen fehlten, weshalb mittels Drittanbieter*innen gearbeitet wurde. Dennoch hätte es auch dort Treuhandkonten gebraucht. Diese existieren allerdings nur in der Bilanz. 2020 stellten Wirtschaftsprüfer*innen fest, dass 1,9 Milliarden Euro, die auf asiatischen Treuhandkonten gebunkert sein sollten, gar nicht vorhanden waren (Redaktionsnetzwerk Deutschland, 2020).

Finanzskandale und die Rolle der Medien

Im Zuge derartiger Finanzskandale wird häufig die vorausgegangene mediale Berichterstattung kritisiert. So gaben viele enttäuschte Enron-Investor*innen den (Finanz)-Medien, die Enron über Jahre als „The World’s Greatest Company“ betitelten, die Schuld für ihre Verluste. Und das wohl nicht völlig zu Unrecht, schließlich gab es bereits im Jahr 2000 Unregelmäßigkeiten im Geschäftsbericht. In einer zunehmend nach Deregulierung strebenden Gesellschaft wurden dies vom Gros der Finanzjournalist*innen unhinterfragt hingenommen (Doyle, 2006, S. 433-434).

Laut Doyle gab es zudem auch Fälle, in denen Journalist*innen eingeschüchtert wurden, etwa, indem mit Klagen gedroht wurde. In einem derartigen Klima wird es den Medienvertreter*innen erschwert, ihre „Watch-Dog“-Rolle wahrzunehmen (2006, S. 439-440).

Der Presse sollte dieser Umstand aber nicht als Vorwand dienen, denn Einschüchterungsversuche sind historisch gesehen keine Anomalie – wie ein Rückblick in die österreichische Finanzberichterstattung veranschaulicht: Analysiert man Wiener Tageszeitungen von 1848 bis 1950 dahingehend, ob sie sich mit dem Thema Bilanzfälschung auseinandergesetzt haben, zeigt sich, dass dieses Schlagwort in den Jahren unmittelbar vor den Weltkriegen in österreichischen Tageszeitungen besonders prominent vertreten war. Während der Kriegsjahre war die diesbezügliche Berichterstattung hingegen defacto nicht vorhanden (siehe Abb. 1).

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Krisen und andere Ablenkungen

Diese Tatsache kann unterschiedlich interpretiert werden – etwa durch die Einstellung zahlreicher Publikation oder zunehmende Propaganda. Ebenso ist denkbar, dass der mediale Fokus in Kriegszeiten einfach anders gelagert war. Diese Hypothese ist vor allem vor dem Hintergrund relevant, dass Enron kurz nach 9/11 bekannt wurde und die Wirecard-Blase während der Corona-Pandemie platzte. Historisch gesehen, könnte also in beiden Fällen mit einer professionalisierteren Finanzberichterstattung argumentiert werden, die weniger von anderen Krisen vereinnahmt wird.

Journalist*innen, Analyst*innen und Expert*innen

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang überdies, dass in dem genannten Untersuchungszeitraum jene Zeitungen besonders häufig und kritisch über Bilanzskandale berichteten, die über eigene Wirtschaftsressorts und über eine dementsprechende Expertise verfügten (siehe Abb. 2).

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Eine mögliche Ableitung dieser Beobachtung wäre, dass Tageszeitungen gut daran täten, auf Spezialist*innen mit einem ausgeprägten Fachverständnis zu setzen – sofern sie eine kritische Berichterstattung anstreben.

So war es auch 2001 mit der Reporterin Bethany McLean eine ehemalige Analystin, die den Stein im Enron-Skandal ins Rollen brachte. In einem provokanten Artikel stellte sie die Frage, wie Enron eigentlich Geld verdienen würde. Im Zuge ihrer Recherche konnte oder wollte es ihr niemand sagen (Sherman, 2002). Im Falle von Wirecard war es eine Serie kritischer Berichte in der Wirtschaftszeitung „Financial Times“, in der wiederholt auf Ungereimtheiten hingewiesen wurde.

Transparenz und Kontrolle

Der historische Vergleich zeigt, dass Wirecard und Enron viel gemeinsam haben. Gleichzeitig erschweren es aber allein die massiven Unterschiede zwischen internationalen Finanzsystemen, pauschale „Learnings“ aus vergangenen Bilanzskandalen abzuleiten.

Das soll nicht bedeuten, dass aus fremden Fehlern nicht gelernt werden kann. Im Gegenteil, „Wirecard ist die letzten Jahre wortwörtlich aus allen Nähten geplatzt“ (Schuchter, 2020) und die Erfahrung hat gezeigt, dass interne Kontrollmechanismen mit derartigem Wachstum kaum mithalten halten können. Blinde Flecken sind das Resultat, die von Betrüger*innen gezielt ausgenutzt werden (Schuchter, 2020). In diesem Wissen sollten Kontrollorgane agieren und sich dabei stets eines vor Augen halten: „Wachstumsstories“, die fast zu schön sind, um wahr zu sein, sind meist auch nicht wahr“ (Schäfer, 2002, S. 563).

Weiterführende Links:

ANNO – Historische Zeitungen und Zeitschriften

Ein Beitrag von Markus Strohmayer

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FH-Prof. Mag. Kovarova-Simecek Monika

FH-Prof. Mag. Monika Kovarova-Simecek

Stellvertretende Leiterin des FH-Kollegiums Studiengangsleiterin Digital Business Communications (MA) Studiengangsleiterin Digital Management und Sustainability (MA) Stellvertretende Studiengangsleiterin Management und Digital Business (BA) Department Digital Business und Innovation